Zwischen

Geboren bin ich – dazwischen. Genau dann, als ein Zeichen endete und ein neues begann. Meine frühe Kindheit war gebettet in dieses Zwischen, das nichts verlangt. Ich war glücklich. Ich liebte die alte Holzvilla, in deren unterem Geschoß ich – wie man so sagt – das Licht der Welt erblickte. Meine Mutter weiß zwar nicht mehr, wann genau ich sie von den Schmerzen entbunden hatte, doch als ich endlich da war, habe ich nicht geweint, es habe eher wie ein krächzendes Lachen geklungen. Ich mag die Raben auf den hügeligen Wiesen. Sie sprechen nur Wahres. Ich habe sehr früh gelernt zu laufen. Ich habe sehr früh vieles verstanden. Aber früh sprechen konnte ich nicht. Welche Sprache auch? Welche Sprache sollte die Muttersprache sein? Im Dazwischen spricht sich alles aus. Ich liebte die endlosen Felder, den Ausblick vom Balkon der Villa. Ich fühlte von dort dem Rauschen der Bäume nach, versank im Murmeln des Baches, flog mit den Vogelstimmen davon. In diesen Weiten spürte ich die Sprache. Ich habe immer geweint, sagt meine Mutter.

Ich mochte das Getändel zu den Stillzeiten. Ich sog an den Brustwarzen und zugleich mit der Milch kamen Laute aus dem Mund meiner Mutter. Ihre Stimme blubberte und sprudelte wie eine Quelle, zog die Laute in die Länge, trommelte weich und melodiös die Worte, die nur für uns bestimmt waren. Unsere Sprache. Ich schmeckte ihre Klänge, ließ sie am Gaumen hin und her rollen, sich entfalten. So sank ich oft in Schlaf. Achtzehn Monate lang genoss ich dieses Spiel mit meiner Mutter. Weil ich meine Zähne schon bekommen hatte, zerbiss ich ihr manchmal die Brustwarzen, wenn ich zugleich saugen und mich verlauten wollte. Hatte sie mich deshalb entwöhnt? Oder weil sie mich verlassen würde? Mit einem Mal waren die Laute weg. Die Worte, die nur sie aussprach, die nur ich verstand. Mein Vater war mir noch geblieben. Er sprach die Sprache, die jeder verstand. Er war Lehrer, aber auch er erklärte es nicht, und mit einem Satz war er weg. Nur mein kleiner großer Bruder blieb mir. Bald wurde auch er mir entrissen. Man brachte mich zu den Großeltern in ein großes Haus. Es wimmelte von Menschen. Keine Sprache aber wandte sich mir zu. Mutterlos fiel ich in tiefe Stille. Ich mochte keine Milch. Ich liebte nur ihre Brüste.

Du warst in einem verwahrlosten Zustand, sagt meine Mutter. Brüsk wurde ich aus dem Schlaf geweckt. Meine Mutter sei gekommen. Ich wollte mich freuen, sah aber nur das Entsetzen in ihren Augen. Ich vergrub meine Regung. Die Augen füllten sich mit Misstrauen. Meine Mutter nahm mich kurz in den Arm, legte mich aber sogleich wieder ab, um mit meinem Großvater laut zu reden. Sie klaubte meinen Bruder auf, ich hielt mich fest an seiner Hand.

Die Baracke führte uns wieder zusammen. Ein Raum für eine Familie. Mutter, Vater, Bruder und ich. Ich war ihr dankbar. Ich hatte den weiten langen Weg über geschlafen. Meine Mutter zog mir den Mantel aus. Ich legte meine Stummheit nicht ab. Jeden abend saß ich am einzigen Fenster, staunte über die weiße Wiese und sah den Schwärmen von Krähen nach. Jeden abend kehrten sie an einen Ort zurück, der mir verborgen blieb. Ihr Krähen klang so sehnsuchtstreu. Meine Mutter erfand ein neues Spiel für mich, für unsere Sprache. Immer wenn sie hisch hisch sagte und die Nase wie ein Schoßhündchen rümpfte, ließ ich alles liegen und stehen und hüpfte ihr auf den Schoß, umarmte sie und gab ihr viele Küsse.

Es war schön, dicht gedrängt in einem Bett zu liegen. Oftmals wachte ich über den Schlaf und suchte die Träume meiner Eltern nachzusehen. Ich horchte auf ihre Atemgeräusche. Zwiegespräch der Schlafenden. Diese Sprache scharrte im Dunkel. Ich verstand sie nicht. Meine Mutter und mein Vater tauschten auch tagsüber einige ungewöhnliche Laute aus und manchmal lachten sie dabei. Offensichtlich war das ihre Geheimsprache. Ich war eifersüchtig. Nach und nach jedoch konnte ich manches von dem verstehen, was sie sprachen. Anstelle des blütenhaften bugün sagten sie choite, anstelle des klingenden ben nahmen sie das Wort ich, oder sie sagten mochte statt des insistierenden istiyorum. Ich verriet nichts davon, dass ich ihnen auf die Schliche gekommen war. Und sie waren geduldig, drängten mich nicht zu sprechen.

Der unberührte Schnee war luftig gefroren. Unter meinem Tritt platzte die Kruste. Mir gefiel der knusprige Klang. Schritt um Schritt knackte ich den Schnee. Gebrochener Schnee, gekränkter Schnee. Er war noch nicht geschmolzen, als mein Mund zu knospen begann. Ich saß auf dem Schoß meiner Mutter und spielte mit den Falten ihres Kleides. Sie unterhielt sich mit meinem Vater. Mein Bruder, dick eingepackt, hing unentschlossen an der Klinke der Türe. Über die Schwelle zog es kühl herein. Kapat kapıyı, rief meine Mutter. Ogün schaukelte weiter. Mach doch die Türe zu! Mein Vater stand auf. Kar kırıldı, sagte ich da.

Kompendium

Oya Erdoğan, geb. 1970 in Akyazı in der Türkei, studierte Philosophie und Orientalistik in Wien, lebt als freie Schriftstellerin zur Zeit in Berlin.